Ab Januar 1945 konnte die Niederlage Deutschlands - von realistisch urteilenden Menschen schon lange erkannt - nicht mehr verschleiert werden. Bereits am 25. September 1944 hatte Hitler durch Erlass verfügt, dass alle nicht der Wehrmacht angehörigen, waffenfähigen Männer zwischen 16 und 60 Jahren zur Unterstützung der kämpfenden Truppen im Kampf um das Reichsgebiet - dem Reichführer SS Heinrich Himm1er unterstellt - mobil zu machen sind. Der Einsatz dieses als »Volkssturm« bezeichneten Aufgebots war wohl das Ende vom Ende - so sollte man meinen - aber die Nazis gingen in ihrem perversen Denken und Handeln noch einen Schritt weiter. Ein schreckliches Beispiel, das in diesem Zusammenhang zum Nachdenken anregen kann, ist der heute noch im Original vorhandene »Einberufungsbefehl«, den ich und meine gleichaltrigen Kameraden mit Datum vom 27. März 1945 als Dreizehnjährige ausgehändigt bekamen. »Eine wahnsinnige Zumutung«, die bei allen Beteiligten - die Eltern mit eingeschlossen - Entsetzen, Niedergeschlagenheit und Ratlosigkeit auslöste und mir tief in der Erinnerung haften blieb. Nur durch das unbeschreibliche Chaos, das in den letzten Kriegstagen in unserer Region herrschte, entgingen wir Dreizehnjährigen dem uns zugedachten Inferno.
Gerhard Bach
Großes Durcheinander, totale Verwirrung, Auflösung jeder Ordnung
Die Nationalsozialisten erachteten es für wichtig, die Jungen im Wehrsport zu üben, also eine paramilitärische Ausbildung zu fördern. Sinn und Zweck dieses Vorgehens war – neben dem sogenannten Volkssturm – die Heranbildung der „Hitlerjugend“ zur Übernahme der Landesverteidigung. Im Gesamten gesehen handelte es sich um eine total unzureichend ausgebildete und ausgerüstete Kampforganisation, in der viele Mitglieder Kinder oder Greise waren. Doch wir Deutschen hatten den Krieg längst verloren! In dieser „Zeit der Hoffnungslosigkeit“ erging an uns Dreizehnjährige völlig überraschend der „Einberufungsbefehl“, der bei den Empfängern und ihren Angehörigen große Frustration auslöste!
Die um ein Jahr älteren Jungen, die ebenfalls diesen „Einberufungsbefehl“ erhalten hatten, machten sich am Gründonnerstag, dem 29. März 1945, auf den Weg. Sie mussten aber bereits in Ettlingen feststellen, dass ein Weiterkommen mit der Albtalbahn aussichtslos war. Diese ist nämlich neben der Munitionsfabrik in der Ettlinger Spinnerei immer wieder ein Angriffsziel der alliierten Fliegerangriffe gewesen. Die von den Sulzbacher Buben zurückgelegte Wegstrecke endete hinter Reichenbach, als ein „Mann in brauner Uniform“ sie zur Umkehr aufforderte. Nach ihrem Eintreffen in Sulzbach am Morgen des Karfreitag berichteten sie von ihren Erlebnissen und machten uns Jüngeren deutlich, dass es absolut unsinnig sei, jetzt noch Sulzbach zu verlassen. So gesehen hatten wir Dreizehnjährige Glück im Unglück: Ein großes Durcheinander auf allen Ebenen, eine totale Verwirrung unter den Menschen und eine Auflösung jeder Ordnung verhinderte die Verwirklichung dieses „ungeheuerlichen Befehles“.
Albert
Schneider